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Die digitale Medienrevolution gleicht einem Hurrikan

buecher_tischIm Herbst 2011 überschlagen sich die Botschaften, die dem traditionellen Buchgeschäft wenig Gutes verheißen. Der Trend geht zur mobilen Content-Nutzung und zum mobilen Commerce. In Frage gestellt werden Buchpreisbindung und das Urheberrecht in seiner geltenden Form. Diskutiert wird der Verbleib des gedruckten Buches. So mancher prophezeit dem E-Book inzwischen sogar einen Sieg über Print.

Die Bestseller-Autorin Joanne K. Rowling startete ihren Pottermore-Shop, womit sie Verlagen und Sortimenter das gute Geschäft mit Harry Potter abgräbt. Amazon prescht Anfang November mit einer Online-Leihbücherei fürs Kindle voran. Der Branchenver­band bitkom vermeldet, dass in Deutschland heuer 230.000 Reader verkauft werden, Weltbild-Geschäftsführer Klaus Driever rechnet mit einer halben Million. Nach Amazon bekannte sich Ende Oktober auch der kanadische E-Book-Händler Kobo zu verlegerischen Ambitionen. Viel ist zudem von Self-Publishing und neuen Lesegewohnheiten (Stichwort: Social Reading) die Rede. So präsentierten die beiden Schweden David Kjelkerud und Henrik Berggren Anfang November die Readmill-Software, die Leser miteinander vernetzen und das Bücherlesen sozial machen soll. Und nicht zuletzt fragen sich inzwischen einige, welche Entwicklung das (lineare) Erzählen überhaupt nehmen wird?

Angesichts der aktuellen Entwicklungen ist es wenig verwunderlich, dass sich längstens nicht nur die Player und Kenner der bibliophilen Szene den Kopf darüber zerbrechen, quo vadis Buch? Fragen, wie die Lesekultur von morgen bestellt sein wird, werden inzwischen breit diskutiert. Zukunftsszenarien treiben Feuilletonisten, Buchlieb­haber und Autoren ebenso um wie den herstellenden und vertreibenden Buchhandel und junge Start-Ups, die mit unkonventionellen Ideen rund ums Buchgeschäft antreten.

Wie leidenschaftlich und kontrovers Fragestellungen inzwischen diskutiert werden, die die Zukunft des Buches betreffen, ließ sich jüngst bei Google+ beobachten: Ausgelöst hatte die Debatte, die sich im Netz über mehrere Tage hinzog, Kathrin Passig. Stein des Anstoßes war ein Interview mit Helge Malchow bei SPON, in dem der Chef von Kiepenheuer & Witsch Amazons Kampfansage, Buchverlagen Geschäftsfelder streitig machen zu wollen, selbstbewusst zurückwies. Im Kern berief er sich auf die traditio­nelle Rolle des Verlages als „kulturelle Instanz“ bzw. Gatekeeper, was im Netz teil­weise heftigen Widerstand hervorrief.

Neues Publizieren – Wo steht die Verlagsbranche?

Eine Plattform für alle, die sich fragen, quo vadis Buch?, bietet E:PUBLISH, der Kongress für neues Publizieren, der am 17./18. November 2011 im Harnack-Haus der Max-Planck-Gesellschaft in Berlin/Dahlem stattfindet. Die 2-tägige Begegnung vereint die 2009 von PaperC gemeinsam mit SWOP. Medien und Konferenzen ins Leben gerufene Tagung Buch Digitale mit Homer 3.0, einer Zusammenkunft, die der Börsenverein des Deutschen Buchhandels Berlin-Brandenburg 2010 erstmals veranstaltete. Mit den Initiatoren Detlef Bluhm (Börsenverein für den deutschen Buchhandel Berlin-Brandenburg) und Martin Fröhlich (PaperC) führten wir ein Gespräch:

TI: Die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Medienbranche werden breit diskutiert. Auch auf der Frankfurter Buchmesse waren diese zentrale Themen. Messedirektor Jürgen Boos diagnostizierte eine Aufbruchsstimmung. Was erwarten Sie sich vor diesem Hintergrund von E:PUBLISH 2011?

manfred_froehlichMartin Fröhlich (MF): Wir erwarten, dass alle Teilnehmer die gebotene Chance nutzen, ihre individuellen Probleme im Spannungsfeld der Digitalisierung zu artikulieren und aktiv eine längst fällige Diskussion mitgestalten. E:PUBLISH bietet dank eines breiten Spektrums persönlicher Hintergründe und aktueller Herausforderungen hierfür einen idealen Rahmen.

Detlef Bluhm (DB): Von unserer außerordentlich gut gebuchten Fachkonferenz E:PUBLISH erwarte ich neben den vielen Best-Practice-Beispielen, Workshops, Vorträgen, Podien und Table-Sessions vor allem visionäre Blicke in die Zukunft unserer Branche. Insbesondere in Bezug auf den Verkauf digitaler Produkte im und über das stationäre Sortiment sowie zum Thema Social Reading.

TI: Herr Fröhlich, was veranlasste PaperC – die Onlineplattform für Fach- und Lehrbücher – im Jahr 2009, die Buch Digitale gemeinsam mit SWOP. Medien und Konferenzen ins Leben zu rufen?

MF: Die Notwendigkeiten der Zeit in einem sich verändernden Markt zu erkennen und allein im stillen Kämmerlein, am liebsten noch hinter vorgehaltener Hand tuschelnd sich die ergrauenden Haare zu raufen, macht in unseren Augen noch weniger Sinn als sich der Erkenntnis komplett zu entziehen. Die Aufbruchsstimmung, die seit einiger Zeit in der Branche herrscht, hatte uns als Gründer schon damals erreicht. Wir wollen als initiativ-gebende Kraft, als Motor der Veränderung unseren Teil dazu beitragen, dass noch mehr Verlage von der digitalen Welle vorangetrieben werden, anstatt von ihr überspült zu werden.

TI: Herr Bluhm, warum initiierte der Börsenverein des Deutschen Buchhandels Berlin-Brandenburg 2010 erstmals Homer 3.0?

detlef_bluhmDB: Wir erleben gerade die vierte Medienrevolution der Geschichte, genauer gesagt, deren Beginn. Wenn man zur Veranschaulichung unserer derzeitigen Situation eine drastische Analogie heranziehen darf: Diese digitale Medienrevolution gleicht einem Hurrikan. Aber uns hat erst seine Randzone erreicht. Und genau aus diesem Grund veranstalten wir HOMER 3.0 bzw. E:PUBLISH – weil wir der Meinung sind, dass sich unsere Branche sehr sorgfältig auf diese Medienrevolution vorbereiten muss, um den Sturm zu überleben, der über uns hereinbrechen wird. Unsere Fachkonferenz wollte vor einem Jahr, will heute und wird auch in den nächsten Jahren eine Schmiede der dazu nötigen Instrumente sein.

TI: Was hat sie bewogen, die beiden Konferenzen unter ein gemeinsames Dach zu stellen?

DB: Ein paar sehr gute Gründe. Die BuchDigitale und HOMER 3.0 lagen im letzten Jahr zeitlich sehr nahe beieinander, viele Interessierte mussten sich aus Termingründen für eine der beiden Konferenzen entscheiden. Allein aus dieser Überlegung macht die Fusion der Kongresse Sinn. Ferner haben beide Kongresse zwar unterschiedliche Zielgruppen, die aber in der Theorie und in der Praxis sehr viel miteinander zu tun haben. E.PUBLISH bietet nun Softwareentwicklern, Start-Ups und der universitären Community einerseits sowie Vertretern des Buchmarktes aus Verlagen und Buchhandlungen andererseits die in Deutschland einmalige Möglichkeit, einander kennen und verstehen zu lernen und gleichzeitig die Fragen und Antworten unterschiedlichster geistiger Gewerke auf den Prüfstand eigener Erfahrungen zu stellen.

TI: Die Frage, ob die deutschen Verlage Amazons verlegerische Ambitionen fürchten müssten, beantwortete Helge Malchow jüngst bei SPON selbstbewusst mit „Nein!“. Wie bewerten Sie diese Entwicklung?

DB: Unsere Branche hat Amazon bei Aufnahme der Geschäftstätigkeit in Deutschland vor gut zwölf Jahren nur mitleidig belächelt. Heute realisiert Amazon mehr als zehn Prozent aller Buchumsätze in Deutschland. Eine so krasse Fehleinschätzung dürfen wir uns nicht noch einmal leisten.

MF: Amazons Entscheidung, der schon nach wenigen Wochen nun andere Anbieter folgen, als Rauschen im Blätterwald abzutun, fällt allein ob der schieren Marktmacht des Online-Kaufhauses schwer. „Die Deutschen Verlage“ gibt es unserer Ansicht nach nicht – Verlage sind so divers wie kein anderer Zweig der Wirtschaft. Wie kann man da ein pauschales Urteil fällen wollen? Es wird Verlage geben, die um ihre Bestsellerautoren bangen müssen, weil deren Strahlkraft – gekoppelt mit der von Amazon bedienten Breite genügt, um eines professionellen Verlagsmarketings entbehren zu können. Der Bereich Self-Publishing wird eine neue Relevanz bekommen. Newcomer, die ganz ohne Verlage groß werden und an Amazon-Konditionen gewöhnt sind, werden sich nicht in die Honorarkorsage einer für sie irrelevanten Zwischenstation von Content und Markt zwängen. Das obere und das untere Ende der verlegerischen Wertschöpfung (billige Masse und wirkliche Topseller) wird zukünftig maßgeblich von Amazon und anderen branchenfremden Dienstleistern übernommen werden. Das breite, arbeitsintensive und traditionell geprägte Mittelfeld bleibt in Verlagshand. Zunächst.

TI: Was sollten Buchverlage Ihres Erachtens tun, um sich für den Buchmarkt der Zukunft fit zu machen?

MF: Sie sollten sich mit dem Gedanken anfreunden, dass ein stetig wachsender Teil des Geldes, das mit medialen Inhalten verdient wird, nicht mehr durch Print verdient wird und entsprechende Maßnahmen ergreifen. Wenn es Verlagen nicht gelingt, tragfähige Online-Modelle zu etablieren, machen es andere.

DB: Deutschlands Buchverlage sind längst dabei, sich für den Markt der Zukunft fit zu machen: Sie entwickeln neue, digitale Produkte, testen unterschiedlichste Geschäftsmodelle, versuchen neuerdings auch, den stationären Buchhandel in den Verkauf digitaler Produkte einzubeziehen, investieren viel in die Nachwuchsförderung. Und die cleversten von ihnen kommen am 17. und 18. November nach Berlin zu E.PUBLISH, einem Zukunftslabor unserer Branche.

TI: Glauben Sie daran, dass das E-Book das gedruckte Buch verdrängen kann?

MF: Ja.

DB: Das E-Book hat das gedruckte Buch in bestimmten Bereichen schon verdrängt. Einige wissenschaftliche Verlage beispielsweise erwirtschaften bereits heute mehr als 50% ihres Umsatzes mit digitalen Produkten. Doch diese Frage zaubert keine Sorgenfalten auf die Stirn unserer Branche. Wenn wir es auch zukünftig schaffen, Inhalte aus allen Bereichen qualitativ wie bisher aufzubereiten und in verschiedenen Ausgabeformaten und zu vernünftigen Preisen so anzubieten, dass die Endkunden uns weiterhin als attraktive Content-Produzenten schätzen und für diese Inhalte auch zu bezahlen gewillt sind, dann elektrisiert uns die Fragestellung analog oder digital nicht besonders.

TI: Der 2-tägige Kongress ist gespickt mit Programmhöhepunkten. Worauf freuen Sie sich besonders?

DB: Neben den wirklich sehr vielen und vor allem vielfältigen Programmhöhepunkten freue ich mich besonders auf den kollegialen Austausch, auf anregende und zukunftsweisende Gespräche mit weit über 200 Kongressgästen.

MF: Meine Höhepunkte sind die persönlichen Treffen mit der Gründerpersönlichkeit Axel Schmiegelow, der interaktive Austausch während der Table Sessions und mit den jungen Gründern beim Buch Digitale Innovation Pitch in Interaktion zu treten.

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