Donnerstag , 28 März 2024
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Wieviel Wikileaks verträgt die Demokratie?

transparente_weltEs ist der Stoff für einen Thriller: Ein Hacker wird zum bekanntesten Aktivisten im Internet und macht sich zum Staatsfeind Nummer Eins der USA. Er wird aus heiterem Himmel von Interpol gesucht und der Vergewaltigung in zwei Fällen angeklagt. Ob dieser Geschichte genügend Wahrheit anhaftet oder ob sie dem Kalkül bestehender Machthaber entsprechend eingefädelt wurde wird die Zeit zeigen – und das kann lange dauern. Was auch immer die Wahrheit ist, das Beispiel des Wikileaks-Gründers Julian Assange rührt an einer Grundfrage, die sich die politische Welt seit langer Zeit stellen muss: Wieviel Transparenz verträgt eine Demokratie? An der Beantwortung dieser Frage muss sich letztendlich Wikileaks messen lassen, denn sie gibt Antwort darauf, ob die Transparenz politischer Vorgänge einem Weltbürger, einem Staatsvolk oder dem Einzelnen schädlich sein kann.

Geht man von der Bedeutung des Begriffes Demokratie aus, nämlich der unmittelbaren oder wenigstens mittelbaren Volksherrschaft in einem Staat, so scheint Transparenz eine notwendige Konsequenz von Demokratie zu sein. Die Wähler müssen beurteilen können, ob die Politik in ihrem Interesse ausgeübt wird. Jedem Einzelnen steht danach ein Anspruch auf Information zu. Wie verhält es sich dagegen, wenn laufende Ermittlungen stattfinden oder wenn es sich um Informationen handelt, welche die „Sicherheit des Staates“ betreffen? Es gibt hier offenbar Grenzen der Informationsfreiheit. Das wird mit dem Schutz der Betroffenen (gegen welche ermittelt wird) begründet oder gar nicht. In letzterem Fall geht es um Strategie wie zum Beispiel den USA: Die Regierung listet wichtige ökonomische Standorte in Europa auf und nutzt Maulwürfe in deutschen Parteien.

Wir sind hier schon auf globaler Ebene angekommen. Und diese hat nichts mehr mit der nationalen gemein, denn eines ist Fakt: Es gibt keine globale Demokratie trotz Völkerrecht und Internationalem Gerichtshof. Es gibt strategische Pakte, NGOs und jede Menge Militär. Die Welt ist ein Abbild von ausgewachsenen Institutionen.

Das bringt Probleme mit sich, von denen Wikileaks einige sichtbar macht. Hier stehen Wikileaks Institutionen gegenüber, deren notwendige Natur die Geheimhaltung von Informationen ist und deren Status quo offenbar gefährdet ist. Philosophisch betrachtet ist eine Institution eine in der Zeit geronnene Gruppierung von Individuen (oder Kapital) mit dem Ziel der Selbsterhaltung. Wenn etwas in der Zeit gefestigt wird, beruht seine Existenz auf einem Dogma vergangener Zeit. Ein Dogma ist ein Glaubensgrundsatz, der deshalb auf Glaube beruht, weil sein Wahrheitsgehalt im Fluß der Zeit und im Wechsel der Paradigmen stark abgenommen hat. Der Selbsterhaltungstrieb eines auf Dogmen aufbauenden Systems treibt es zur Selbstverteidigung oder auch zum Angriff auf das Neue.

Zurück zur Praxis. Mit der Reaktion der USA und anderer befreundeter Nationen entsteht die Frage, ob sich die westliche Welt – im Beispiel Wikileaks – gegen etwas Neues behaupten muß. Was ist die westliche Welt? Sagen wir, jene Nationen, die wirtschaftlich am besten gestellt sind. Das wirft eine weitere Frage auf: Geht es hier um Demokratie oder um Kapitalismus?

Es geht – natürlich – um Kapitalismus. Die junge Generation der Internet-Nutzer braucht keine Abhandlung darüber, dass und wie der Kapitalismus sich seit langem mit dem Schutzschild „Demokratie“ bewaffnet. Jeder weiß oder ahnt zumindest, dass die Politik Instrument der Wirtschaft geworden ist und dass es in heutigen „bewaffneten Konflikten“ nicht um Beendigung von Terror oder Despotie geht. In heutiger Zeit ist die Verteidigung von Dogmen durch die Ökonomie schwer auszumachen. Kapitalismus ist selbst glaubens- und ideologielos. Aber seine Mitglieder – jeder von uns – ist in Glauben an ihn gefangen. Wer hat nicht wenigstens einmal an die Möglichkeit auf gesellschaftlichen Aufstieg und Wohlstand gedacht? Wer glaubt nicht an die Möglichkeit einer (wirtschaftlichen) Verbesserung seines Lebens?

Damit haben wir zwei Grundprobleme erfasst: Kapitalismus wächst im Individuum. Und nur das Individuum ist in der Lage, seinen Glauben abzuwerfen. Man kann „den Kapitalismus“ nicht abbrennen wie einen religiösen Bau oder Saddams Palast. Außerdem: Demokratie ist zweideutig. Es gibt sie als solche und es gibt sie als Marionette für wirtschaftliche Interessen. In letzterem Fall kann man feststellen, dass Transparenz nur schädlich ist. Durch jene würde man nur die Fäden am Gerippe der vermeintlichen „Demokratie“ erkennen.

Bevor man aber die „Strippenzieher“ verurteilt muss man sich (als Bürger in der westlichen Welt) fragen, ob es nicht zum eigenen Besten ist, wenn „unsere Wirtschaft“ floriert, wenn ich günstige Klamotten aus Asien kaufen kann, wenn ich günstig Bodenschätze aus Afrika raube oder der übrigen Welt das Öl abziehe, damit ich in meiner Badewanne nicht friere? Es kommt auf die Sichtweise an und die Frage lässt sich – selbst für einen Öko-Aktivisten – nicht so leicht beantworten.

Wikileaks‘ Potential besteht in der Sichtbarmachung eines teilweise pervertierten Selbsterhaltungstriebes der westlichen Welt. Wikileaks hat das Potential für eine weltweite Euphorie einer neuen Generation zu sorgen. Ein globales Woodstock: Von der Piraten-Partei in Deutschland über die einzelnen Blogger in Peking oder Teheran. Transparenz deckt auf, sie macht bewusster, sie verteilt die Balance neu in der Welt. Und hier muss sich jeder selbst fragen: Will ich das?

Ein letztes Stichwort: Pareto-Optimum. Jemand muss schlechter gestellt werden, damit es mir besser geht. Eine ökonomische Theorie mit Konsequenzen. Es gibt die „Merkur – Zeitschrift für europäisches Denken“, welche in den 90ern titelte „Kapitalismus als Schicksal?“. Vielleicht gibt das Lesen der dort abgedruckten Essays eine Entscheidungshilfe dafür, ob man seinen recht angenehmen Status quo erhält oder das Risiko eingeht, für die geringsten Dinge hart arbeiten zu müssen – als Preis von weltweiter Transparenz.

Ein Gastbeitrag von Marco Siebert.

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