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Tschernobyl könnte eine Million Menschenleben gefordert haben

tschernobyl_luftaufnahmeDas Buch, in dem diese Behauptung aufgestellt wird, erschien auf Russisch schon im Jahr 2007. Eine englische Übersetzung wurde 2009 von der New Yorker Akademie der Wissenschaften veröffentlicht. Und warum liegt eine derartige Kluft zwischen dieser Zahl und den offiziellen Angaben der internationalen Atombehörde IAEA, die auf nicht mehr als 4.000 Todesopfer verweisen? Die Antwort ist offensichtlich. Es kommt darauf, wann und wo man zu zählen aufhört. Von den rund 800.000 „Liquidatoren“, wie jene Arbeiter bezeichnet wurden, von denen die Gegend um Tschernobyl im Laufe der folgenden Jahre weitläufig gesäubert wurde, waren bis zum Jahr 2005 mehr als 100.000 an strahlenbedingten Leiden verstorben.

Die Tragödie, die sich im Atomkraftwerk von Tschernobyl am 26. April des Jahres 1986 ereignet hatte, war beinahe vergessen. Erst seit der Katastrophe in Japan, seit dem das Kraftwerk von Fukushima die Welt wieder in Atem hält, erinnern wir uns dieses „lange zurückliegenden“ Ereignisses. Doch liegt es wirklich lange genug zurück? Wie hoch sind die sogenannten Halbwertszeiten der verschiedenen radioaktiven Elemente?

Die Autoren Alexey V. Yablokov, Vassily B. Nesterenko und Alexey V. Nesterenko studierten 5.000 wissenschaftliche Artikel und 30.000 Zeitungsberichte, die meisten davon in slawischen Sprachen. Auf ihren Erkenntnissen basierend, veröffentlichten sie 2007 ein Buch mit dem Titel „Tschernobyl: Die Konsequenzen der Katastrophe für Mensch und Umwelt!“ Im Januar 2010 erschien dieses 400 Seiten umfassende Werk auf Englisch im Wiley-Blackwell-Verlag, basierend auf der Übersetzung durch die New Yorker Akademie der Wissenschaften. (Titel der englischen Ausgabe: “Chernobyl: Consequences of the Catastrophe for People and the Environment”)

Das Autorenteam schreibt: „Seit 23 Jahren steht es fest, dass es eine Gefahr gibt, die größer ist als jene von Atomwaffen, versteckt in der Nutzung von Atomenergie. Die Emissionen aus diesem einen Reaktor (Tschernobyl) übertrafen die radioaktive Verseuchung, die durch die Atombomben von Hiroshima und Nagasaki verursacht wurde, um das Hundertfache.“ Und weiter: „Keinem Bürger irgend eines Landes kann versichert werden, dass er vor radioaktiver Strahlung geschützt ist. Der Tschernobyl-Fallout erstreckte sich über die gesamte nördliche Hemisphäre.“

Die internationale Atombehörde IAEA sprach ursprünglich von nicht mehr als 31 Todesopfern unter den direkt bei den Löscharbeiten Involvierten. 2005 kam ein Forum schließlich zu dem Schluss, dass die Gesamtzahl der Todesopfer bei 4.000 liegt.

Das vorliegende Buch verweist darauf, dass von den rund 830.000 Liquidatoren, die über Jahre hinweg in direkt verseuchten Gebieten zu Aufräumungsarbeiten eingeteilt waren, zwischen 112.000 und 125.000 an strahlenbedingten Krankheiten verstorben sind. Doch die Auswirkungen reichen wesentlich weiter.

Nach dem Fallout verbreitete sich die Strahlung über die gesamte nördliche Hemisphäre. Innerhalb von neun Tagen erreichte die radioaktive Wolke Nordamerika. In Europa wurden 550 Millionen Menschen nennenswerter Strahlenbelastung ausgesetzt. Für den Rest der Welt schätzen die Autoren die Zahl auf 150 bis 230 Millionen.

In Weißrussland, der Ukraine und im europäischen Teil Russlands sei der Prozentsatz gesund geborener Kinder strahlungsbelasteter Eltern nach 1986 von 80 Prozent auf 20 Prozent abgesunken. Im Großraum von Tschernobyl ist die Zahl von Krankheiten, die auf radioaktive Belastung zurückzuführen sind, seit damals dramatisch angestiegen. Kindersterblichkeit, Missbildungen, Erkrankungen des Atem- und Verdauungstraktes, Erkrankungen der Schilddrüse, Leukämie und vieles mehr.

Die Arbeit setzt sich aber auch mit den Auswirkungen auf den Rest Europas und auf den nordamerikanischen Kontinent auseinander. Gewiss, in vielen Fällen lässt sich kein Nachweis erbringen, ob ein Anstieg bestimmter Krankheiten und Krebs auf die Belastung durch radioaktive Partikel, auf die Einnahme verstrahlter Nahrungsmittel oder auf andere Ursachen zurückzuführen ist. Die Autoren sind jedoch überzeugt, dass die Langzeitauswirkungen des Tschernobyl-Unglücks weltweit dramatisch heruntergespielt werden. Unterstützt werden die Verharmlosungen mit Sicherheit auch durch unsere persönlichen Erfahrungen. Fühlt irgend jemand, und die meisten von uns waren 1986 schließlich schon auf der Welt, eine gesundheitliche Belastung durch die damals einsetzende Verstrahlung? Wie sollten wir auch? Radioaktivität ist heimtückisch. Schleichend und unbemerkt greift sie den Organismus an. Und sollte sich wirklich eine anerkannte Organisation finden, die einen direkten Zusammenhang zwischen dem Ansteigen bestimmter Krankheiten und dem Unfall in Tschernobyl belegen kann, was sollte schließlich mit den mehr als 400 Reaktoren geschehen, von denen wir weltweit bedroht werden? Atomkraftwerke lassen sich schließlich nicht so einfach verbieten wie anderes, was sich negativ auf die Volksgesundheit auswirken könnte.

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